Interview mit dem Rektor der HSE Prof. Christof Wolfmaier

Der Stall, die Verbindungen und der Weg nach vorn

Interview mit dem Rektor der HSE Prof. Christof Wolfmaier

Es ist ein frischer Herbstabend am 31.10.2019 (an Halloween also), an dem ich mich mit dem neuen Rektor der Hochschule Esslingen, Prof. Christof Wolfmaier, für ein Interview treffe. Die Amtsübergabe für den Posten als Rektor ist nicht einmal zwei Wochen her und das neue Rektoratsbüro befindet sich noch inmitten von Umbauarbeiten. Ich betrete das Dekanatsbüro in Gebäude zwei, das der Fakultät Fahrzeugtechnik, und treffe auf einen gut gekleideten Herrn Professor Wolfmaier, der mich herzlich begrüßt. Wir führen ein wenig Small Talk. Wie bei unseren letzten Treffen wirkt er offen, zugänglich und bodenständig. Unser neuer Rektor ist absolut kein Neuling an der HS Esslingen. Die letzten 15 Jahre hatte er das Dekanat der Fakultät Fahrzeugtechnik inne; bereits 1994 war er an die HS Esslingen berufen worden. Trotz der langen Hochschulzugehörigkeit kam er aber erst durch die Übernahme des Rektorats in Kontakt mit Studentenverbindungen – was nicht zuletzt auch unserem BB Jörg Eisinger v. Maxi zu verdanken ist.

Heute bin ich gekommen, um den Mann, der in den nächsten sechs Jahren die Zukunft von gut 6000 Studierenden an der Hochschule Esslingen maßgeblich beeinflussen wird, kennenzulernen. Ich möchte ergründen, was ihn antreibt, wie er die Zukunft betrachtet und was seine Visionen für die Hochschule Esslingen sind. Natürlich kommt dabei das Thema Studentenverbindung nicht zu kurz.

Teil 1: Technologischer Wandel und der Raum Stuttgart

Prima, dass es heute mit dem Interview geklappt hat ­– ich freue mich auf ein spannendes Gespräch mit Ihnen, Herr Professor Wolfmaier.

Wir leben in einem Zeitalter immer schneller aufeinanderfolgender und gravierender technologischer Umbrüche, die unseren Alltag maßgeblich beeinflussen. Welche technologischen Umbrüche haben Ihres Erachtens in den nächsten Jahren den größten Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft?

Wir sind Exportweltmeister Nummer drei, hinter den USA und China, und daher auf internationale Zusammenarbeit mit den großen Märkten angewiesen. Die produzierenden Gewerbe sind immer noch wichtig, aber der Dienstleistungsgedanke wird relevanter. Das müssen wir in unseren Hochschulen abbilden, indem wir serviceorientiert und in Kunden-Lieferanten-Beziehungen denken und uns immer die Frage stellen: Wo ist der Nutzen für den Kunden?

Historisch sind wir es eher gewohnt, in Komponenten zu denken. Aus meiner Sicht müssen wir aber in Systemen denken. Heute hängen an jeder Maschine ein Steuergerät und ein Kabel, um es einfach auszudrücken. Der heutige Maschinenbauer muss die IT, die Elektronik, die Steuerung und natürlich die Mechanik berücksichtigen. Insofern ist „Maschinenbau“ ein breiter Begriff. Der künftige Ingenieur muss sich aus dem zentralen Entwicklungsumfeld hinaus in die Welt vernetzen. Eine Maschine allein erfüllt ihre Aufgabe nicht mehr, diese muss ins Web eingebunden mit Kunden und Lieferanten interagieren.

Wie schlägt sich der technologische Wandel auf die Maschinenbaubranche der Region Stuttgart nieder?

Möglicherweise darf man bspw. zukünftig Fahrzeugtechnik nicht mehr als Fahrzeugtechnik begreifen, sondern als Mobilität. Der Business Case der Industrie wird nicht mehr nur das Produkt Automobil sein, sondern aus der Frage entstehen, welche Wertschöpfung in den Prozessen während des Betriebes steckt: Was macht der Kunde im Auto, wenn er sich langweilt oder Freizeit hat? In Kombination mit der Elektrifizierung der Mobilität stellt dies die vor unserer Haustür ansässigen Unternehmen vor gewaltige Herausforderungen.

Eine kleine Anekdote: Warum heißt die Daimler AG wie sie heißt, und nicht Benz AG? Gottlieb Daimler stellte die grundlegende Frage: „Wie bewege ich ein Fahrzeug?“ Sei es als Pkw, Nutz- oder Schienenfahrzeug, als Schiff bis hin zum Luftschiff. Er hat den Mobilitätsgedanken vorangetrieben, und darum heißt der Konzern Daimler AG – genau darauf muss man sich zurückbesinnen – auf die ganze Mobilität.

Auch die gesamte mechanische Welt wird zunehmend elektronischer und von der IT durchdrungen. Unter dem Stichwort der Digitalisierung wird diese Entwicklung unser gesamtes Leben beeinflussen, und zahlreiche neue Produkte und Dienstleistungen werden entstehen. Menschen auszubilden, die diese konzeptionieren und entwickeln können, das wird sicherlich auch noch in zwanzig Jahren Aufgabe des Stalls sein.

Teil 2: Bildung an der Hochschule Esslingen

Welche Eigenschaften sollen am Stall vermittelt werden, damit die Studierenden auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft bestehen können?

Die Neugier auf die Welt. Die HSE bietet die Gelegenheit, Kosmopoliten auszubilden. Unser größtes Kapital ist die Jugend. Wir müssen junge Menschen befähigen, in einer globalisierten Welt mit unterschiedlichen Kulturen und Arbeitswelten umgehen zu können. Wir wissen nicht, welcher Qualifikationsanspruch in fünf oder zehn Jahren herrschen wird. Aber egal welche Disziplin studiert wird: Eine Wissenschaft wirklich zu ergründen, bildet Denkstrukturen aus und schafft die Basis für eine gute berufliche Zukunft. Sich in einer Wissenschaft zu vertiefen, ist wie ein geistiger Expander, der den Intellekt trainiert und Kenntnisse vertieft. Zudem ist das Denkvermögen auch in der Breite wichtig, um komplexe Themen zu erfassen sowie interdisziplinär und vernetzt denken zu können.

Wie schafft es die HS Esslingen, diese Kompetenzen hervorzubringen?

Zum einen denken wir darüber nach, das erste Semester interdisziplinär für alle zu machen – als Studienorientierungssemester. Ob wir das allerdings genehmigt bekommen, steht noch in den Sternen. Zum anderen fördern wir einen weltweiten Austausch. Unsere Studenten sollen andere Kulturen kennenlernen und offen in die Welt gehen. Dies lässt sich nur durch Kooperation erreichen. Wenn wir wollen, dass eine chinesische Spitzenhochschule Studierende von uns annimmt, dann geht das nur, indem wir den Chinesen ebenfalls unsere Türe öffnen.

Was ist Ihre Vision für die Hochschule Esslingen?

Wir sind eine HS der angewandten Wissenschaften, und dieses praktische Anwenden grenzt uns von den Universitäten ab. Daher muss es uns gelingen, in den Fakultätsstrukturen möglichst adaptiv und flexibel zu bleiben. Die Grundlagen müssen solide behandelt werden. Aber bei den Anwendungen müssen wir uns in die Lage versetzen, relativ rasch auf Veränderungen des Arbeitsmarktes reagieren zu können. Damit meine ich, dass wir aus der Kleinteiligkeit unserer Disziplinen herauskommen müssen, in größere Einheiten, die innerhalb ihrer Fakultätsgrenzen mehr Spielraum haben. Wir müssen „Container“ unserer Fakultäten durchlässiger gestalten.

Ich glaube nicht, dass eine Hochschulleitung eine Struktur überstülpen sollte, und schon gar nicht die Lehrinhalte bestimmen. Die Fakultätsgrenzen sollten so weit gesteckt werden, dass innerhalb dieser Grenzen Spielräume entstehen, die anregen, Neues auszuprobieren und zu Experimenten in der Lehre einladen. Wir haben die Vision, diese Breite der Qualifikationsansprüche zu ermöglichen, indem wir uns multidisziplinär zusammenfinden.

Meinen Sie damit einen Technik-Campus Esslingen Stadtmitte?

Ja, ein Wunsch, eine Vision von mir wäre es, einen Themen-Campus zu generieren. Wir arbeiten derzeit an drei verschiedenen Standorten: Göppingen, Stadtmitte und Flandernstraße; hinzu kommt künftig die neue Weststadt statt der Flandernstraße. Es wäre natürlich wünschenswert, das Engineering dort zusammenzuziehen, wo schon sehr viele technische Labore vorhanden sind. Der Geburtsort der Hochschule, Esslingen Stadtmitte, weist diese Infrastruktur auf. Der Standort Göppingen befindet sich hier nicht auf dem Prüfstand, aber ich denke, auch dort müssen wir ein Thema finden, dass anders gelagert sein wird, als es heute ist.

Was gibt es Neues zum Standort Weststadt?

Wir rechnen mit dem Spatenstich im Frühjahr des nächsten Jahres und der Übernahme des Neubaus im Jahr 2025. Worüber wir uns ein bisschen Sorgen machen, ist, ob wir es schaffen, die technischen Labore am Standort Stadtmitte zu errichten, bevor wir die Flandernstraße abgeben müssen. Daher planen wir einen Neubau auf dem Knäbel-Areal in der Stadtmitte. Zudem wird es einen Ersatzbau für das Gebäude 8 und die Aula geben. Als anwendungsorientierte Hochschule sind wir ja eine „Hands-on“-Hochschule. Allein mit Hörsälen ist uns nicht gedient. Zu unseren wertvollsten Attributen zählen die Laboratorien; wir verfügen zum Teil über Labore, die einzeln schon bei Investitionen im Millionenbereich liegen.

Teil 3: Die Verbindungen und der Stall

Wie sah Ihr Bild von den Studentenverbindungen aus, bevor Sie Rektor geworden und näher in Kontakt mit diesen gekommen sind?

Ich finde, die Studentenverbindungen müssen daran arbeiten, dass ihr klischeehaftes Bild korrigiert wird, und da gibt es – glaube ich – noch viel zu tun. Es wird unterstellt, ihr als Verbindungen seid politisch eher mitte-rechts-orientiert, eine reine Männergesellschaft, und es wird viel getrunken. Ich denke, man weiß zu wenig darüber, was ihr insgesamt macht. Verbindungen umgibt immer die Aura von etwas Geheimem, fast wie bei einer Loge. Uneingeweihte fragen sich: Was treiben die da drin? Die verkleiden sich, haben komische Riten etc. Es muss aber viel mehr auf die Aspekte hingewiesen werden, die nicht „komisch“ sind, sondern der Gesellschaft dienen, dem Zusammenleben und der Kontaktpflege zur Hochschule. Auf der RVC-Antrittskneipe habe ich eine Satzung reflektiert, deren erster Abschnitt wirklich sehr nationales Gedankengut aufweist. Aber beim Lesen der Historie bin ich darauf gestoßen, dass die Studentenverbindungen im Dritten Reich unterdrückt worden sind. Sie hatten Versammlungsverbot, und das wissen viele nicht. Darüber spreche ich momentan viel, wenn ich berichte, dass ich Verbindungen besuche. Diesen Kontakt möchte ich gerne pflegen. Damit ich die dortigen Umgangsformen besser kennenlerne, hat man mich doch glatt zur einer „Fuxenstunde“ eingeladen. Die Einladung werde ich annehmen! (Lacht.)

Teilen die anderen Professoren und Mitarbeiter der HSE das Bild, das Sie anfangs beschrieben haben?

Ja, immer noch. Da kann ich aber nun ein bisschen gegenhalten, und das will ich auch tun. Ich werde vielen raten: Bewegt euch auf die Verbindungen zu. Diese leisten großartige Arbeit; dort werden Dinge vermittelt, die in der Kinderstube oft nicht mehr mitgegeben werden – und darin sehe ich Stärken.

Wie empfinden Sie die Integration der Verbindungen an der HSE?

Ich halte sie für sehr positiv. Es hat natürlich etwas Traditionelles, aber an der Tradition ist nichts Schlechtes, wenn man trotzdem nach vorn orientiert ist. Eine fantastische Plattform hierfür ist der Kandelmarsch: Da ist die ganze Stadt auf den Beinen, Angehörige und Freunde der Absolventen sind vor Ort – hier liegt bestimmt Potenzial. Viele Hochschulen kopieren heutzutage die Gepflogenheiten der angelsächsischen Welt mit Robe und Doktorhut; das finde ich fast schon abgedroschen, und es hat etwas Theatralisches an sich. Aber der Kandelmarsch als Esslinger Tradition ist authentisch, dahinter steht eine Geschichte, und die Studentenverbindungen werden an dem Tag sichtbar.

Wie können sich Verbindungen besser an der HSE integrieren?

Ich würde mich an Multiplikatoren wenden; dies sind natürlich Dekane, Professoren und Professorinnen. Auf mich kam früher kaum jemand zu, und ich war 15 Jahre lang Dekan und habe mit meinem klischeehaften Bild gelebt. Einer Einladung zu einer Verbindungsveranstaltung wäre ich damals eher gefolgt, hätte mich ein Studierender eingeladen. Zum Teil erfahren wir gar nicht, wer in einer Verbindung ist und wer nicht.

Wer ist auf Sie als neuer Rektor bezüglich Verbindungen herangetreten?

Das war Jörg Eisinger, zu dem habe ich einen guten Draht.

In Esslingen sind die Studentenverbindungen sehr liberal eingestellt und nehmen Frauen auf. Dadurch besteht die einzigartige Möglichkeit, dass die Hochschule die Nähe zu den Verbindungen und die Verbindungen die Nähe zur Hochschule suchen können. Würden die Verbindungen nur Männer aufnehmen, könnte die HSE diesen Schritt gar nicht wagen.

Nein, sicher nicht – und davon wäre ich auch gar kein Freund, das muss ich ganz klar sagen. Dies wäre mir zu rückwärtsgewandt. Ich denke, ihr dürft keinen Zweifel daran lassen, dass ihr auch für Studentinnen als Mitglieder offen seid. Insofern sind die Frauen in eurer Verbindung sogar die besseren Marketingleute. Und ihr macht das schon relativ gut, wie ich lernen durfte!

Für junge Studierende ist es immer schön, wenn sie ihren Professor oder Rektor in einem anderen Umfeld kennenlernen können.

Das habe ich ja mitbekommen. Die Kanzlerin sagte zu mir scherzhaft: Du musst dir Autogrammkarten drucken lassen. Offensichtlich hegen die Studierenden eine gewisse Sympathie für mich, die auf Gegenseitigkeit beruht. Dies hängt vielleicht auch mit meinem Menschenbild zusammen: Ich nehme Menschen an, wie sie sind.

Bevor wir das Interview abschließen, hätte ich noch eine letzte Frage: Warum sind Sie Rektor geworden?

Ich bin nicht Rektor geworden, weil ich „Chef“ sein wollte, sondern weil ich die Hochschule mag. Diese war 25 Jahre lang mein beruflicher Hort. Ich habe wahnsinnig gern Vorlesungen gehalten und hatte immer einen guten Draht zu den Studierenden und auch zu meinen Kollegen: eine Sache, die mir am Herzen liegt und weiterhin so bleiben muss. Natürlich fehlt mir nun als Rektor einerseits der Kontakt zu den Studierenden, aber auf der anderen Seite habe ich immer im Kopf: Ich bin hier und will den Laden vorwärtsbringen – wegen den Studierenden. Wenn wir euch nicht hätten, wäre unser Dasein obsolet.

Herr Professor Wolfmaier, ich danke Ihnen vielmals, dass Sie sich heute so viel Zeit für mich genommen haben, und würde mich freuen, Sie auch in Zukunft auf unseren Veranstaltungen willkommen zu heißen!

Wenn ihr mich weiterhin einladet, dann komme ich selbstverständlich auch.

An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem lieben BB August Sontheimer v. Schlau bedanken, der das Treffen am Kandelmarsch so geschickt eingefädelt hat!

Christoph Pitter v. Cuculla

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